Von Kay M Crossley, Joanne L Kemp, Charles Ratzlaff und Ewa M Roos übersetzt aus dem Englischen
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Im Jahr 2002 wurde im New England Journal of Medicine eine randomisierte kontrollierte Studie veröffentlicht, die uns alle aufhorchen ließ. Das wirklich bemerkenswerte an dieser Studie war, dass alle Teilnehmer randomisiert drei Gruppen zugewiesen wurden:
- Arthroskopisches Debridement, inklusive Chondroplastie, Lavage und Meniskusteilresektion
- Arthroskopische Lavage oder
- Placebo-Operation (nur Hautinzision)
Das Ergebnis:
Arthroskopischer Eingriff nicht besser als Schein-OP
Die Patienten in der Interventionsgruppe (arthroskopische Behandlung) zeigten zu keinem Zeitpunkt im Follow-up weniger Schmerzen oder eine bessere Funktion als die Patienten in der Placebogruppe. Das steht in komplettem Widerspruch zur gängigen Praxis arthroskopischer Eingriffe mit Debridement, sowohl bei Patienten mit Gonarthrose als auch bei jüngeren Patienten oder im sportmedizinischen Bereich.
In sportmedizinischen und orthopädischen Kreisen wird die Kniearthroskopie weiterhin propagiert, wobei das Hauptaugenmerk von Eingriffen bei Gonarthrose auf die transarthroskopische Teilmeniskusentfernung verlagert wurde. Da aber degenerative Meniskusläsionen Teil des Arthroseprozesses im Kniegelenk sind, erlaubt dieses Re-branding (Meniskusresektion statt Gelenktoilette oder Debridement) Chirurgen mit der im Kern gleichen Art von Operation fortzufahren, nur unter einer anderen Bezeichnung.
In den letzten 12 Jahren wurde in fünf weiteren randomisierten und kontrollierten Studien die Kniearthroskopie ausgewertet. Eine dieser Studien untersuchte das Gelenkdebridement, die anderen vier konzentrierten sich auf die transarthroskopische Meniskektomie. Von diesen zeigte die Arbeit von Sihvonen und Kollegen keine Vorteile einer Meniskusteilresektion im Vergleich zur Scheinoperation. Hervorzuheben ist, dass die Studienteilnehmer Patienten waren, von denen angenommen wurde, dass Sie besonders von einer Operation profitieren würden (z.B. Patienten mit degenerativer Meniskusläsion ohne radiologische Zeichen einer Arthrose).
Trotz der Schwierigkeiten, die bei der Durchführung von randomisierten kontrollierten Studien (RCTs) bei chirurgischen Therapieverfahren bestehen, blieben sechs RCTs von hoher Qualität ohne Evidenz für zusätzliche Effekte bezüglich Schmerzlinderung oder Funktionsverbesserung bei transarthroskopischer Meniskusresektion im Vergleich mit Placebo/Schein-OP oder konservativer Therapie, wie z.B. physikalischer Therapie. Die Ergebnisse sind stabil, egal ob eine Gelenktoilette durchgeführt wurde oder nicht.
Diese Evidenz hoher Qualität sticht die positiven Resultate unkontrollierter Fallstudien aus und zeigt, dass die Meniskusresektion keine effektive Therapiemaßnahme bei symptomatischen degenerativ bedingten Meniskusrissen ist.
Obwohl degenerative Meniskusrisse das Risiko für eine beginnende Arthrose erhöhen, zeigen Studien bei Meniskektomie in der Langzeitbeobachtung kein besseres Bild: Patienten, die sich einer Meniskusresektion unterziehen, haben im Vergleich zur Kontrollgruppe ein zehnfach erhöhtes Arthroserisiko 10-20 Jahre nach dem Eingriff.
Die Arthroskopie bei degenerativen Meniskusläsionen wird nicht weiter unterstützt.
Die zunehmende Evidenz die gegen Meniskusresektionen spricht, findet sich auch in aktuellen Leitlinien wieder: Die NICE Leitlinien in Großbritannien konstatieren »Do not refer« Überweisen Sie keinen Patienten zur arthroskopischen Spülung und Gelenktoilette als Teil einer Arthrosetherapie, solange das Kniegelenk dieser Person nicht eine eindeutige Vorgeschichte mechanischer Einklemmungserscheinungen aufweist (im Gegensatz zu Symptomen wie Morgensteifigkeit, giving-way, oder radiologische Hinweise auf freie Gelenkkörper).
Allerdings ist das Einordnen von Meniskusrissen innerhalb des Arthroseprozesses
eine Herausforderung. Subgruppen-Analysen der oben genannten RCTs zeigen ebenfalls keinen Unterschied im Therapieergebnis bei Patienten mit mechanischen Problemen.
Sogar das führende Organ für Chirurgen, die American Academy of Orthopedic Surgeons, konstatiert: »Wir sind nicht in der Lage klare Empfehlungen für oder gegen eine arthroskopische Meniskusteilresektion bei Gonarthrosepatienten mit einer Meniskusläsion abzugeben.«
Warum werden dann immer noch so viele Patienten diesem Eingriff unterzogen?
Obwohl keine Vorteile gegenüber einer Schein-OP, einem Placebo-Eingriff oder konservativer Therapiemaßnahmen bestehen, werden Millionen von Patienten weltweit bei degenerativen Meniskusrissen operiert. Dabei werden sie unnötigen und nicht unerheblichen Risiken und Kosten ausgesetzt. Während die Zahlen für Eingriffe bei Gonarthrose im letzten Jahrzehnt gesunken sind, zeigte sich im selben Zeitraum ein Anstieg bei den Meniskuseingriffen. Auffällig ist, dass sich die Eingriffshäufigkeit in der Gruppe der 35-45 jährigen verdoppelt hat. Bei den über 55jährigen zeigte sich sogar ein 2,7 facher Anstieg.
Alleine in den USA werden etwa eine halbe Million transarthroskopischer Meniskuseingriffe durchgeführt. Das ist möglicherweise der Tatsache geschuldet, dass die Kosten für den Eingriff von Medicare übernommen werden. Dagegen wird das Debridement bei Gonarthrose, egal ob mit oder ohne Meniskusteilresektion, nicht bezahlt.
Dies zeigt entweder, dass die gängige Praxis nicht mit der vorhandenen Evidenz Schritt hält, oder es deutet, wie ein Editorial im Journal »Arthroscopy« vor kurzem konstatierte, auf die gängige Meinung hin, dass als Studienobjekte (in placebokontrollierten chirurgischen Studien) Patienten ausgewählt wurden, die möglicherweise nicht mehr ganz bei Verstand seien. Demnach sind die Ergebnisse dieser Studien nicht übertragbar auf solche, deren Probanden im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte waren.
Die Autoren argumentieren zudem, dass die Durchführung von Schein-OPs (Eingriffe ohne therapeutische Intervention) unethisch sind. Wie auch immer: Arthroskopie (z.B. mit Teilmeniskusentfernung oder Gelenkdebridement) bietet keinen zusätzlichen positiven Effekt und ist somit auch keine Therapie. Ihre eigene Argumentation lässt daher eher den Schluß zu, dass arthroskopische Eingriffe mit Debridement oder Meniskusresektion als unethisch zu bewerten sind.
Allen die im Bereich der klinischen Sportmedizin tätig sind (Ärzte, Chirurgen, Physiotherapeuten und alle anderen Heilmittelerbringer) kommt eine wichtige Rolle zu, klinische Praxis auf Höhe der aktuellen Evidenz zu halten.
Aktuelle RCTs von hoher Qualität, klinische Leitlinien und Editorials zeigen uns, dass die Entfernung degenerativer Meniskusläsionen keine besseren Ergebnisse zeigt, als Placebo- oder Schein-OPs oder physikalische Therapiemaßnahmen.
Ausgestattet mit diesen Informationen müssen wir gut informierte, evidenzbasierte Entscheidungen treffen bezüglich optimaler Patientenversorgung und die fortbestehende Praxis arthroskopischer Meniskusoperationen hinterfragen.
Anmerkung des Übersetzers:
Ab Frühjahr 2016 gelten in Deutschland bei der Versorgung von GKV-Versicherten mit Gonarthrose deutliche Einschränkungen. Arthroskopien dürfen dann nur noch bei Patienten mit Traumata, akuten Gelenkblockaden und meniskusbezogenen Indikationen, bei denen die bestehende Gonarthrose lediglich als Begleiterkrankung anzusehen ist, als GKV-Leistung erbracht und über den EBM abgerechnet werden.
Für alle anderen Fälle hat der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) den Eingriff aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung gestrichen.
Übersetzt von:
Dr. med. Frank Weinert, Facharzt für Allgemeinmedizin – Sportmedizin – Chirotherapie, Sportmedizinische Untersuchung- und Beratungsstelle des Bayerischen Sportärzteverbandes (BSÄV) und des Bayerischen Landes-Sportverbandes (BLSV)
Wohnhaft in Bayern, dem Bundesland mit den höchsten Raten an arthroskopischen Eingriffen und Knieprothesenimplantationen (Quelle: Faktencheck Gesundheit).
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